Laudatio an die Sprache der Milch

Was macht ihr denn eigentlich? Und wozu das überhaupt? Diese Fragen werden uns immer wieder gestellt oder sie sind zumindest in hochgezogenen Augenbrauen erkennbar. Die Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach. Aber einem zentralen Aspekt, der uns für das Leben bei den Tubus und den Einsatz für sie motiviert, wollen wir in diesem Text nachgehen. Nämlich der Bedeutung der Muttersprache.

Ich liebe meine Muttersprache. Schweizerdeutsch, genauer gesagt den Thurgauerdialekt. In keiner anderen Sprache kann ich mich nur annähernd so gut ausdrücken. In meiner Muttersprache sind Wörter nicht einfach nur Wörter. Nein, diese Wörter erzeugen in meinem Kopf Emotionen, Geräusche, Situationen und Bilder: „En aakaflete Öpfel“. Ich weiss genau wie der aussieht. Ich weiss auch genau was es heisst, dass jemand „tööschälät“, „schlarpet“, „umesuuret“, oder „süüferli umegüxxlät“. Und für Bezeichnungen wie „en alte Chnuuschti“ oder „e glatti Trulla“ habe ich ein konkretes Bild im Kopf . Nicht einmal in Hochdeutsch könnte ich genau das rüberbringen, was in meiner Muttersprache so sonnenklar ist. Aber wie sollte das je in Französisch oder Englisch möglich sein? Oder gar in Arabisch oder Tedaga, wo noch ein komplett anderes Weltbild die Sprache mitprägt?

Die Tubus können Dinge, die ich mit meinem Denken nicht mal richtig fassen kann, in einem Wort ausdrücken. Was für ein Reichtum an Kultur in der Sprache doch steckt! Und die Kultur macht einen grossen Teil meiner Identität aus. Meine Werte, also mein Gefühl für richtig und falsch, wichtig und nichtig, schön und hässlich, wie viel zu spät immer noch pünktlich ist, usw.

Was aber, wenn meiner Muttersprache von einer „grösseren“, scheinbar wichtigeren Sprache der Kampf angesagt wird? Was wenn meine Muttersprache zu verlieren droht? Wenn sie über Jahre (wie die Tubus-Sprache unter Gaddafi) verboten wird? Oder, als Ziegenhirten-Kauderwelsch, als “patois” neben einer Landes- oder gar einer Weltsprache steht? Was wenn ich Dinge in der von Aussen eindringenden Sprache nicht so sagen kann, wie es für mein Denken passt? Wenn mit dem Verlust meiner Muttersprache auch meine Sitten und Bräuche, Alltagsregeln und Gewohnheitsrecht, mein Wissen über meine Umwelt und die Schätze meiner Vergangenheit in Vergessenheit geraten? Was wenn ich nicht mehr ausdrücken kann, was meine Identität ausmacht? Und was, wenn ein grosser Teil meines kulturellen Wissens in der sich schnell verändernden Welt nicht mehr gefragt ist? Verliert meine Sprache, in der dieses Wissen „codiert“ ist, im neuen Umfeld ihren Wert?

Gehe ich dazu über, mit meinen Kindern behelfsmässig in der eingedrungenen Sprache zu sprechen? Damit sie etwas werden. Weil sie ja mit meiner Sprache nichts sind.

Auf Tudaga, der Sprache der Tubus, heisst „Muttersprache“ wörtlich übersetzt „Sprache der Milch“. In der Tat: mit der Muttermilch saugen Kinder die Muttersprache auf. Sie haben ihren Klang intus, bevor sie auch nur das erste Wort sprechen können.

Ich bin begeistert vom „Phänomen Muttersprache“ und finde sie absolut schützenswert! Wenn die Sprache der Tubus gegen Arabisch verliert, geht eben nicht nur eine Sprache verloren, sondern die Kultur und Identität eines ganzen Volks.

Diese Niederlage zu verhindern ist das Ziel unseres Sprachprogramms. Auf allen möglichen Kanälen, von Schreibwettbewerb über Wörterbuch-App bis zur Homepage, setzen wir uns dafür ein. Wir wollen den Tubus helfen, ihre Sprache (erneut) lieben und auch in der verändertem Umwelt wertschätzen und verwenden zu lernen und sich nicht von der grossen Nachbarssprache verunsichern und verdrängen zu lassen. 

 

Eine Antwort auf „Laudatio an die Sprache der Milch“

  1. Als ich den Titel las “Laudatio an die Sprache der Milch” fragte ich mich, was das wohl ist. Danke für eure Einführung. Eine wunderbare Laudatio – einfach herrlich unser Thurgauer Dialekt, obwohl ich beim aakaflete Öpfel einige Male lesen musste, bis ich drauf kam. Ja, gar nicht so leicht zu lesen, diese Muttersprache…
    Weiterhin viel Freude und Ausdauer bei eurer Arbeit.
    Liebe Grüsse – Cornelia Nufer

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